Konzept zum Umgang mit sexueller/sexualisierter Gewalt

Stand Juli 2023

Der Infoladen soll ein Raum sein, in dem →Sexismus, sexistische →Übergriffe und →sexuelle/sexualisierte Gewalt keinen Platz hat. In dem Wissen, dass der Infoladen aber keine Utopie ist, sondern – wie die linke Szene insgesamt – von Macht- und Diskriminierungsstrukturen durchzogen ist, haben die Menschen der Gruppen, die den Infoladen nutzen, ein Konzept für den Infoladen erarbeitet, das einerseits Strukturen schaffen soll, die sexistische Übergriffe und sexuelle/sexualisierte Gewalt präventiv verhindern oder hemmen sollen (Teil 1) und andererseits uns selbst auf einen Umgang mit Übergriffen verpflichtet, wenn sie geschehen sind (Teil 2). Leitlinie des Konzepts ist dabei die →Parteilichkeit mit und Unterstützung von →betroffenen Personen.
Am Ende des Konzepts findet ihr ein kurzes Glossar, in dem wir erläutern, wie wir ein paar zentrale Begriffe und Konzepte verstehen und in diesem Glossar verwenden (Ein Pfeil (→) zeigt an, wenn ein Wort im Glossar erklärt wird).

Dieses Konzept wird von den den Infoladen nutzenden Gruppen regelmäßig (halbjährlich) diskutiert und weiterentwickelt. Über Kritik und Anmerkungen zum Konzept freuen wir uns. Schreibt uns dazu gerne eine Mail (infoladen-jena@riseup.net) oder kommt zu unseren regelmäßigen Plena.


1. Präventiver Umgang

Mit folgenden Fragestellungen sind wir – Menschen der Gruppen, die den Infoladen nutzen, d.h. im Nutzendengruppenplenum organisiert sind – an dieser Stelle in die Bearbeitung gegangen: Welche Situationen liegen im Infoladen vor und wie können wir sie so gestalten, dass potentielle →Übergriffe unwahrscheinlicher werden? Wie schaffen wir ein Klima, in dem egal, was passiert, ansprechbar ist und gehört wird?

Öffentliche Struktur

  • Öffentliche Veranstaltungen (bspw. Öffnungszeiten, Vorträge, …) werden von Menschen aus dem Infoladen betreut; im Idealfall in einem nicht nur →cis männlichen 2er-Team. Das Nutzendengruppenplenum verfolgt mit diesem Konzept das Ziel, dass alle Personen, die öffentliche Veranstaltungen betreuen, sich regelmäßig (jährlich) durch Workshops oder andere Schulungsangebote zu Awareness, →sexueller/sexualisierter Gewalt und Antisexismus weiterbilden. Das Nutzendengruppenplenum organisiert dazu im Infoladen selbst Angebote und legt intern Verantwortlichkeiten für die Organisation dieser Angebote fest. Diese Verantwortung soll rotieren.

  • Der Infoladen möchte ein Raum sein, der von Unterstützungsgruppen, Awarenessgruppen, →FLINT*-Gruppen und feministischen Gruppen genutzt wird und der mit seinen Ressourcen ihre Arbeit unterstützt. Das Nutzendengruppenplenum bemüht sich, Anfragen dieser Gruppen gegenüber anderen Anfragen zu priorisieren. Wenn eine Anfrage nicht umgesetzt werden kann, macht das Plenum die Gründe transparent und unterstützt, wenn möglich, die Suche nach alternativen Räumen bzw. Ressourcen.

  • Für öffentliche Veranstaltungen beginnen wir aktuell (November 2022), ein Awarenesskonzept zu erarbeiten, dass wir nächstes Jahr hier veröffentlichen wollen.

Interne Struktur der raumnutzenden Gruppen

  • Es findet monatlich ein Plenum aller Nutzendengruppen statt. An diesem nehmen alle im Infoladen aktiven Gruppen teil. Bei (szene)öffentlichen oder an den Infoladen herangetragenen Outcalls besprechen wir im Nutzendengruppenplenum, inwiefern eine oder mehrere der Gruppen im Infoladen vom Outcall betroffen ist bzw. sind (durch ein Verhältnis zum →Täter o.ä.), und reflektieren, was das für die Arbeit im Infoladen bedeutet. Insbesondere gilt das, wenn →Betroffene sich an uns wenden. Dies gilt auch für Folgeveröffentlichungen, wie etwa der Kritik an der fehlenden Aufarbeitung in einer Gruppe. Der Infoladen solidarisiert sich mit den Forderungen von Betroffenen nach Aufarbeitung (→Parteilichkeit).

  • Punkte/Kritik, die die Reflexion von und die Gruppendynamik in internen Plena betreffen, können selbstständig von teilnehmenden Gruppen als Sonderpunkte im Plenum eingebracht werden.

  • Wir treffen uns regelmäßig (halbjährlich) für ein Emo-/Reflexionsplenum.

  • Das vorliegende Konzept dient als gemeinsame Arbeitsgrundlage. Ziel ist es, in einem halbjährlichen Sonderplena der raumnutzenden Gruppen über das Konzept zu sprechen und es mit der Praxis abzugleichen. Dies soll sicherstellen, dass hinter dem Konzept auch ein gemeinsames Verständnis erwächst und dieses auch gelebt wird.

  • Im Infoladen organisierte Gruppen sind aufgefordert, sich einzubringen, Veranstaltungen, Weiterbildungen und Schulungen rund um Awarenessarbeit und das Themenfeld →Sexismus und →sexuelle/sexualisierte Gewalt zu realisieren und auch selbst teilzunehmen. Die Unterstützung dieser Veranstaltungen, finanziell oder durch Vernetzungseffekte, wird priorisiert.

2. Handlungsschritte nach Übergriffen und sexistischem Verhalten

  • Wenn wir im Kontext des Infoladens von →sexistischem Verhalten oder →Übergriffen erfahren, agieren wir betroffenenzentriert und solidarisch →parteilich. Unser Handeln hat das Ziel, die Selbstwirksamkeit und →Definitionsmacht der →Betroffenen zu stärken.
    Wir sind uns bewusst, dass die betroffenenzentrierte und solidarisch parteiliche Arbeit für die betroffene Person mit unserer Verantwortung für den politischen Raum Infoladen und für weitere potentiell Betroffene in Konflikt geraten kann. In so einem Fall wollen wir diese Konflikte der betroffenen Person bzw. ihrer U-Gruppe gegenüber transparent machen und mit ihr/ihnen solidarisch diskutieren.

  • Bei einem uns bekanntgewordenen Täter, sind alle im Infoladen organisierten Menschen aufgefordert, zu sagen, ob sie in persönlichem Kontakt zu dem Täter stehen oder standen.

  • Der Infoladen leistet keine direkte Unterstützungsarbeit wie Alltagsbewältigung oder emotionale Unterstützung. Wenn gewünscht, kann der Infoladen eine vermittelnde/vernetzende Funktion einnehmen. Die Verantwortung für Kontaktvermittlung wird von allen getragen und je nach Kapazitäten verteilt.
    Wir verweisen an dieser Stelle auf weiterführende Beratungsstellen.
    Raumanfragen und andere Ressourcenanfragen von Unterstützungsgruppen werden priorisiert und spontan zur Verfügung gestellt. Bei langfristiger Raumnutzung versucht der Infoladen, eine Nutzung zu ermöglichen.

Ladenverbote/Ausschlüsse

Der Infoladen kann Ladenverbote erteilen und diese (in Absprache mit →Betroffenen) auch wieder aufheben. Verweigert eine Gruppe einen Reflexionsprozess oder betreibt →aktiven Täterschutz, wird sie aus der Nutzung des Infoladens ausgeschlossen.
Der Infoladen selbst macht keine Täterarbeit, wir verweisen auf weiterführende Beratungsstellen.

  • Ladenverbote/Ausschlüsse erfolgen auf Wunsch der →Betroffenen. Auch ohne Wunsch der Betroffenen kann durch das Nutzendengruppenplenum oder notfalls die Betreibenden vor Ort ein Ladenverbot/Ausschluss erfolgen, etwa um andere potenzielle Betroffene zu schützen.
    Ladenverbote/Ausschlüsse werden im Nutzendengruppenplenum besprochen. Temporäre Ladenverbote/Ausschlüsse dienen dem Zweck, den Raum sicherer zu machen und dem Infoladen Möglichkeit zur Bearbeitung zu geben, und können verlängert werden. Im Zusammenhang mit einem Ausschluss können (in Absprache mit den Betroffenen) Bedingungen für die Aufhebung des Ausschlusses formuliert werden.

  • Ladenverbote/Ausschlüsse gegen Einzelpersonen aus den im Infoladen organisierten Gruppen beziehen sich nicht automatisch auf die ganze Gruppe. Gruppen, die gerade in Aufarbeitungsprozessen stecken, dürfen weiterhin zum Nutzendengruppenplenum kommen, soweit entsprechende Gruppenprozesse dem Infoladen transparent gemacht werden und Bereitschaft besteht, im Nutzendengruppenplenum regelmäßig über den aktuellen Stand zu berichten.

Ansprechbarkeit

  • Neben unserer allgemeinen Mailadresse (infoladen-jena@riseup.net) sind wir über eine spezielle Mailadresse (awareness-infoladen-jena@riseup.net) erreichbar. Diese hat den Zweck, dass wichtige Mails zum Thema Sexismus und Gewalt im allgemeinen Mailverkehr nicht untergehen. Im Idealfall wird diese Mail von mind. 1 →FLINT*-Person und einer weiteren Person gemeinsam betreut. Diese Verantwortung wird im Nutzendengruppenplenum verteilt und weitergegeben. Das ist in jedem Plenum möglich, je nach emotionalen und organisatorischen Kapazitäten. Grundsätzlich soll die Aufgabe jährlich rotieren. Das Nutzendengruppenplenum bemüht sich, eine Kontinuität in der Betreuung sicherzustellen, etwa indem der Wechsel der beiden Personen versetzt erfolgt (je eine pro Konzept-Sonderplenum).

  • In Absprache mit →Betroffenen sind diese 2 Personen auch dafür zuständig, Informationen anonymisiert ins Nutzendengruppenplenum zu tragen. Wenn eine Person, die die Mailadresse betreut, einem →Täter nahesteht (z.B. verpartnert, befreundet, mitbewohnend, zusammenarbeitend, gemeinsam politisch organisiert o.ä.), übergibt sie ihre Aufgabe an eine andere Person aus dem Nutzendengruppenplenum.

  • Die Grundlage aller Handlungen und Entscheidungen ist das Nutzendengruppenplenum. Entscheidungen (bspw. zwecks Ladenverbot/Ausschluss oder Vermittlung) werden mit den Betroffenen rückgesprochen bzw. transparent mitgeteilt.


Glossar

Es ist wichtig, dass Betroffene ihre Erfahrungen selbst benennen (können). Dieses Glossar soll dabei unterstützen, Erlebtes einzuordnen, benennbar zu machen, und dazu ermutigen, Betroffenheit auszusprechen. Andererseits kann/soll es auch einen Ausgangspunkt zur Reflexion eigenen Verhaltens sein. Es erhebt dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit und soll nachvollziehbar machen, wie wir bestimmte Begriffe gemeint haben. Wichtig ist uns dabei, dass, egal welche Begriffe eine betroffene Person für ihre Erfahrungen nutzt, wir mit ihr sind.

Sexismus

Sexismus ist die Ausübung der Herrschaftsform Patriarchat, das heißt die Unterdrückung und Diskriminierung anhand der Herrschaftskategorie Geschlecht. Diese wird vorwiegend von endo cis Männern gegenüber →FLINT*-Personen ausgeübt. Sie kann aber auch zwischen →endo cis Männern, genauso wie unter FLINT*-Personen, auftreten, z.B. als Auf- bzw. Abwertung von als männlich bzw. weiblich geltenden Handlungsweisen.

Sexismus ist Teil der in der Sozialisation erlernten Verhaltensweisen und Denkmustern. Er wird (in unterschiedlicher Weise und verschiedenen Formen) sowohl von endo cis Männern als auch von FLINT*-Personen reproduziert.

Sexismus erscheint sowohl auf individueller Ebene (im Verhalten der Menschen) als auch strukturell (z.B. durch Gesetze). Er reicht von Phänomenen wie Rollenerwartungen und geschlechtlicher Arbeitsteilung über Nicht-Wahr- und Ernstnehmen, Objektifizierung und Sexualisierung von FLINT*-Personen bis hin zu körperlichen →Übergriffen und gar Femiziden, d.h. der sexistisch motivierten Ermordung von →Frauen* und transfeindlichen Morden. Sexismus kann also viele verschiedene Formen annehmen und beginnt nicht erst bei Übergriffen und →Gewalt, sondern findet sich überall in unserem Alltag.

Auch in der radikalen Linken gibt es Sexismus – auch dort, wo er durch antisexistische Positionierungen, feministische Selbstinszenierung sowie fehlende Aufrichtigkeit und Selbstreflexion versteckt sein mag. Sexismus taucht dabei in verschiedensten Formen in verschiedenen Teilen der radikalen Linken auf: Die Konfrontation mit Gewalt (durch Nazis oder cops) beispielsweise verstärkt mitunter Phänomene wie Mackertum und männerbündische Strukturen; aber auch die gemeinsame Diskussion und Textproduktion ist häufig von patriarchalem Diskussionsverhalten und der Reproduktion von Wissenshierarchien geprägt; und allzu oft sind es FLINT*-Personen, die emotionale Arbeit leisten oder in den gemeinsam genutzten Räumen abwaschen und den Müll rausbringen.

Besonders informelle Hierarchien und Machtstrukturen, die in der radikalen Linken vorherrschen, können dazu führen, dass Täter mit hohem Status häufig keine Konfrontation und Ausschlüsse erfahren. Gleichzeitig bedingen sexistische Strukturen, dass FLINT*-Personen, die am häufigsten von Diskriminierung, Übergriffen und Gewalt betroffen sind, weniger Macht und Status haben.

Übergriffe

Wir sprechen von einem Übergriff, wenn die physischen oder psychischen Grenzen eines Menschen überschritten werden. Diese Grenzen können bei verschiedenen Menschen unterschiedlich sein, aber sich auch bei einem Menschen gegenüber verschiedenen anderen Menschen oder in verschiedenen Situationen unterscheiden. (Bspw. empfinden manche Menschen eine Umarmung als Überschreitung einer Grenze, aber auch, wenn jemand sich einmal von einem anderen Menschen hat umarmen lassen, heißt das nicht, dass die Wiederholung der Umarmung immer angemessen ist.)

Übergriffe fühlen sich für die →betroffene Person meistens unangenehm an, aber nicht immer wird ein Übergriff sofort als solcher erfahren. Insbesondere weiblich sozialisierte Menschen werden im Patriarchat dazu erzogen, Übergriffe als normales Verhalten zu akzeptieren oder sich, wenn sie Übergriffe erfahren, selbst die Schuld zu geben. Die Verantwortung für einen Übergriff liegt jedoch immer beim Täter und seinem ihn unterstützenden Umfeld (→Täterschutz).

Dem →Täter muss dabei seine Übergriffigkeit nicht immer bewusst sein. Gerade männlich sozialisierte Menschen sind es gewohnt, die Auswirkungen ihres Verhaltens auf →FLINT*-Personen nicht zu reflektieren und daher gar nicht mitzubekommen, wenn sie Grenzen überschreiten. Dieses Nichtwissen enthebt sie aber nicht von ihrer Verantwortung – und sexistische Erziehung und patriarchale Privilegien müssen reflektiert werden, bevor es zum (nächsten) Übergriff kommt.

Gewalt

Wir verstehen Gewalt als eine Grenzverletzung, welche bei den →Betroffenen Leid hervorruft. Diese kann in verschiedenen Formen auftreten. Bei allen Gewaltformen kann zudem eine geschlechtliche Komponente hinzukommen.

  • Physische Gewalt

    Physische Gewalt bezeichnet alle Handlungen, die auf eine Verletzung des Körpers abzielen, bspw. Schlagen, Schütteln, Stoßen, Treten, an den Haaren ziehen, Attacken mit Waffen oder Gegenständen, Verbrühungen, Verbrennungen, Vergiftungen, Mord.

  • Psychische Gewalt

    Psychische Gewalt bezeichnet seelisches Quälen bspw. durch Drohungen, Beschimpfungen, Ängstigung, Abwertung, Schuldzuweisung, Stalking, emotionale Manipulation.

  • Strukturelle Gewalt

    Strukturelle Gewalt ergänzt den Gewaltbegriff, der einen unmittelbaren personalen Akteur annimmt, um die Gewaltförmigkeit von staatlichen und/oder gesellschaftlichen Strukturen. Indem einzelne Individuen diese gesellschaftlichen Machtverhältnisse (z.B. Patriarchat) reproduzieren, kann diese Gewalt auch auf persönlicher Ebene stattfinden. Diese Gewaltform wird auch als Diskriminierung bezeichnet.

  • Sexuelle/Sexualisierte Gewalt

    Sexuelle/sexualisierte Gewalt bezeichnet Gewalt, einen sexuellen Bezug hat. Diese kann in allen bereits genannten Formen auftreten. Analytisch wird manchmal zwischen sexueller Gewalt, die →Täter vorrangig zur Auslebung von Lust anwenden, und sexualisierter Gewalt, bei der die sexuelle Komponente der Machtausübung untergeordnet ist, gesprochen. Für Betroffene macht diese Unterscheidung meist keinen Unterschied, daher verwenden wir die beiden Begriffe hier synonym.

Betroffene Person

Wir sprechen im Konzept von Betroffenen bzw. betroffenen Personen, wenn wir von Menschen sprechen, die →sexistische Diskriminierung, →Übergriffe und/oder →Gewalt erlebt haben. Mit dem Begriff der betroffenen Person wollen wir möglichst offen für die verschiedenen Erfahrungen und Selbstverständnisse von Menschen, die sexistische Diskriminierung, Übergriffe und/oder Gewalt erfahren haben, sein, unabhängig davon, ob sie sich selbst als ‚Betroffene‘, ‚Opfer‘, oder ‚Überlebende‘ verstehen – wir sind mit ihnen und ihrem Selbstverständnis solidarisch. Wichtig ist uns, dass wir sie für die Weise, auf die sie sich selbst und die Tat verstehen, nicht verurteilen oder abwerten und keine Hierarchie zwischen verschiedenen Formen der Betroffenheit oder Umgangsweisen mit ihr errichten oder reproduzieren (wollen). Wir fordern von ihnen nicht, dass sie auf die vermeintlich richtige Weise über sich selbst und die Tat sprechen oder wissen müssen, was jetzt zu tun sei, sondern wollen sie auf ihrem Weg des Umgangs unterstützen, sie dabei begleiten, Ohnmachtsgefühle abzubauen und eigene Handlungsfähigkeit zu erhalten.

Parteilichkeit und Definitionsmacht

Unser Ausgangspunkt im Umgang mit →Übergriffen und →sexueller/sexualisierter Gewalt ist die Parteilichkeit mit den →Betroffenen. Unser Anspruch ist nicht, unparteilich ein Urteil darüber zu fällen, was war oder zwischen den verschiedenen Perspektiven auf den Übergriff zu vermitteln, sondern wir wollen den Betroffenen ermöglichen, sich den Infoladen (wieder) anzueignen und nach ihren eigenen Bedingungen mit ihrer Betroffenheit umzugehen. Ohne eine solche eindeutige Parteilichkeit für die betroffene Person setzt sich auch in linken Zusammenhängen zu häufig die Täter-Perspektive durch und Betroffene ziehen sich um sich selbst zu schützen aus linken Räumen zurück.

Ein Kernelement unserer Parteilichkeit ist das Konzept der Definitionsmacht: Die Definitionsmacht über einen Übergriff liegt einzig bei der betroffenen Person, das heißt: Ob eine Handlung als Übergriff erlebt wurde, bestimmt die betroffene Person, und wir glauben ihr ihre Betroffenheit. Wir müssen daher nicht wissen, was genau passiert ist, und nicht die scheinbar objektiv bestimmbare Schwere eines Übergriffs ‚ermitteln‘. Der Ansatz der Definitionsmacht dient dazu, Betroffene nicht dem erneuten Durchleben ihrer Erfahrungen in einer Verhörsituation auszusetzen, wie es bei rechtsstaatlichen Verfahren geschieht, sondern sie zu ermächtigen, ihre Erfahrungen so zu thematisieren, wie es für sie selbst angemessen ist.

Definitionsmacht heißt dabei jedoch nicht, dass einzig die betroffene Person entscheiden kann und muss, was zu tun und wie mit dem →Täter zu verfahren ist; keine betroffene Person muss wissen, was zu tun ist. Stattdessen ist die Anerkennung der Definitionsmacht die Grundlage, parteilich mit der betroffenen Person und, sofern von ihr gewünscht, mit ihr zusammen zu überlegen, welche Entscheidungen (wie etwa Ladenverbote) nötig sind, damit sie sich wieder sicher(er) fühlen kann und um ihr zu ermöglichen, den Infoladen (weiterhin) zu nutzen und politisch aktiv zu sein.

Täter

Wenn wir von gewaltausübenden und/oder übergriffigen Personen im Konzept sprechen, benutzen wir das Wort Täter. Wir wollen auch damit den →Betroffenen nicht vorschreiben, wie sie die ihnen gegenüber →gewalttätigen oder →übergriffigen Personen benennen, ebenso wenig wie wir Täterschaft von nichtmännlichen Personen ausschließen; gleichzeitig wissen wir aber, dass die überwiegende Zahl sexistischer, übergriffiger und gewalttätiger Taten von →cis Männern ausgeübt wird, und wollen diese Realität nicht verschleiern.

In Diskussionen um Täterschaft wird teils von einer ‚diskriminierenden/gewaltausübenden Person‘ anstelle von einem Täter gesprochen. Die Argumente dafür sind meist, dass der Begriff des Täters oder der Täterin das Bild eines grundsätzlich bösen Menschen zeichne, während der Begriff der diskriminierenden oder gewaltausübenden Person sachlich sei. Zugleich wird aber zumeist darauf hingewiesen, dass der Begriff verharmlosend klingen könne. Einer solchen Verharmlosung, mit der Betroffene allzu häufig in ihrem Umfeld und auch in politischen Strukturen konfrontiert sind, wollen wir entgegentreten, indem wir übergriffiges und gewalttätiges Verhalten klar als sexistische Taten mit verantwortlichen Tätern benennen. In unserer konkreten Unterstützung von Betroffenen orientieren wir uns im Sprachgebrauch aber auch an ihren Bedürfnissen und Forderungen.

cis, endo, FLINT*, Frauen*

Wir nutzen in unserem Konzept die Bezeichnung der FLINT*, um verschiedene geschlechtliche Identitäten abzubilden, welche unter patriarchalen gesellschaftlichen Verhältnissen besonders diskriminiert sind. Die einzelnen Buchstaben sollen für folgende Personengruppen stehen:

F – Frauen, L – Lesben, I – Inter Personen, N – Nichtbinäre Personen, T – Trans Personen

F – Frauen sind alle Menschen, die sich als Frauen identifizieren, unabhängig ob sie bei ihrer Geburt als Mädchen oder Jungen bezeichnet oder wie sie erzogen wurden.

L – In der feministischen Lesbenbewegung vertraten manche Lesben die Position, dass die soziale Identität Frau mit der Anforderung heterosexuell zu sein, verbunden ist. Sie identifizierten sich daher als Lesben, nicht als Frauen, und entsprechend war für sie lesbisch sein nicht nur eine sexuelle Orientierung, sondern auch eine Geschlechtsidentität.

I – Mit Inter Personen sind Menschen gemeint, die bei ihrer Geburt oder im Laufe ihres Lebens nicht in die herrschende zweigeschlechtliche Ordnung (Mann – Frau) eingereiht werden konnten, weil ihr Körper in bestimmten Hinsichten nicht den medizinischen Normen von Männlichkeit bzw. Weiblichkeit entspricht. Diese Nichtensprechung kann auf der Ebene der Anatomie, der körpereigenen Produktion von Hormonen oder auf chromosomaler Ebene liegen. Dem gegenüber stehen endo Menschen, deren Körper den medizinischen Normen von Männlichkeit oder Weiblichkeit entspricht.

NT – Dies ist nicht zu verwechseln mit cis Menschen. Cis sind alle diejenigen, die sich mit dem Geschlecht identifizieren, was ihnen als Baby zugeordnet wurde. Menschen, die ein anderes Geschlecht haben als das, was ihnen bei Geburt zugeordnet wurde, sind trans. Es gibt trans Männer und trans Frauen, aber auch nichtbinäre trans Personen, die weder Mann noch Frau sind.

* – Mit dem Sternchen soll Raum gegeben werden für nicht explizit erwähnte Personengruppen, die sich nicht in eine der oben genannten Geschlechtsidentitäten einordnen, aber ebenfalls keine endo cis Männer sind.

An manchen Stellen sprechen wir im Konzept von Frauen* statt von FLINT*. Dies tun wir dann, wenn es wichtig ist zu unterstreichen, dass von bestimmten Formen der Diskriminierung unter patriarchalen Verhältnissen insbesondere Frauen* betroffen sind. Hier macht das Sternchen klar, dass dies alle Menschen einschließt, die sich selbst als Frauen identifizieren, unabhängig davon, ob sie endo oder inter, cis oder trans sind.

Täterschutz

Wir unterscheiden zwischen drei Formen von Täterschutz. Die genannten Merkmale müssen nicht immer alle und nicht in gleicher Intensität auftreten.

  • Direkter, primärer Täterschutz

    Es wird sich klar auf die Seite des uneinsichtigen →Täters gestellt. Ihm werden weiterhin Zugänge zu Räumen und Freund*innenkreisen gewährt und Betroffenen wird mit Gewalt, Mobbing oder Distanz begegnet. Die Taten des Täters werden abgestritten oder es wird eine Täter-Opfer-Umkehr betrieben. Zudem kann auch Kompliz*innenschaft an der Tat bestehen.

  • Indirekter, sekundärer Täterschutz

    Diese Form kann sich durch Entsolidarisierung, Diskreditierung oder Distanzierung von →Betroffenen zeigen. Es wird aktiv weggeschaut und die Situation von Betroffenen wird durch Gossip, Bagatellisierung, Falschinformationen, Relativierung oder das Finden von Ausreden weiter erschwert. Die Forderungen von Betroffenen hingegen werden angegriffen.

  • Struktureller, passiver Täterschutz

    Es findet keine Auseinandersetzung mit der Tat statt, stattdessen wird der Konflikt vermieden und es wird sich nicht oder nur mangelhaft positioniert. Zudem können trotz des Wissens um die Tat weiter Zugänge zu von Betroffenen genutzten Räumen, Strukturen, Ressourcen, Beziehungen etc. gewährt werden. In der Auseinandersetzung liegt der Fokus häufig eher auf dem Täter und weniger auf den Betroffenen, deren Bedürfnisse somit in den Hintergrund rücken. Zudem kann sich diese Form darin äußern, dass Outings als schädigend angesehen werden, oder daran, dass sich Männerklüngel bilden, welche sexuelle/sexualisierte Gewalt nicht als ein Problem ansehen, an dem sie große Anteile haben.